"Für einen Moment..." - Wahrnehmungen


Über eine Stunde sitze ich auf jenen Stufen, auf denen ich schon so oft gesessen bin. Im Sommer eingehüllt in mein Badetuch, nun mit Winterjacke und Schal. Wieder einmal bin ich an einem Sonntag, der anders gekommen ist als gedacht, bei Frau See gelandet.


Die Bank direkt am See wird frei. Ich sitze, beobachte, nehme die Gesprächsfetzen der Menschen wahr, die hinter dieser Bank auf dem Weg vorbeigehen.

  

Der Vater mit den zwei Jungs. Mein erster Gedanke: ein Vater mit seinen Buben am Papa-Wochenende. Doch vielleicht ist es auch ganz anders und die Mutter arbeitet, als Krankenschwester, als Polizistin im Wochenenddienst? Vielleicht ist die Mutter einfach nur froh, wenn sie am Sonntagnachmittag mal ein paar Stunden für sich ganz alleine hat?

Das junge Paar so kurz vor Dreißig. Lautstark debattierend kommen sie in mein Hörfeld. Die Frau beklagt sich darüber, dass ihr Freund, ihr Mann nicht von sich aus auf die Idee kommt, Fotos von ihr hier am See zu machen. Er regt sich darüber auf, dass sie nur schöne Fotos von sich will. Sie wirft ihm an den Kopf, dass er das früher von sich aus getan hätte und nun müsse sie ihn ständig dazu auffordern. Dieser Dialog kommt mir aus meiner Ehe bekannt vor. 

Die Großmutter mit ihrem erwachsenen Enkel, die am Weg zum See mit ihren Handys Fotos machen. Im ersten Moment denke ich, eine Oma mit ihren zwei Enkelsöhnen. Doch dann ist da plötzlich der Gedanke, die beiden Männer sind ein Paar. Vielleicht ist die Frau mit den Stöcken auch die Mutter, eine später Mutter? Oder doch eine junge Großmutter?

Ich sehe den Ring an der Hand ihres Enkels. Die beiden Männer machen ein Selfie, mit der Frau in der Mitte. Ich frage mich, wie es dieser Großmutter, dieser Mutter gegangen sein, als sie erfahren hat, dass ihr Enkel, ihr Sohn einen Mann liebt. Sie scheint kein Problem damit zu haben. Doch war das schon immer so? 

Die beiden Männer sprechen nicht so, wie wenn sie hier in der Gegend leben würden. Vielleicht ist der Enkel, der Sohn zum Studieren nach München gegangen und dort geblieben, weil es in der Stadt einfacher ist als homosexueller Mann als hier auf dem Land. Sein Partner, sein Mann spricht nicht wie die Männer hier, sondern wie einer „aus der Stadt“. Meine Ahnung hat mich nicht getäuscht. Der liebevolle Kuss spricht eine eindeutige Sprache. 

Kindergeplärr vom Spielplatz. Wütend, frustriert, verzweifelt. Ich erinnere mich an die Jahre, wo dieser Spielplatz und die große Sandkiste unter dem Kastanienbaum meine Hauptaufenthaltsorte waren hier am Abtsdorfersee. Schon seit Jahren habe ich nun die Freiheit, dort liegen zu können, wo es früher hieß, „da unten liegen die Senioren“. Ich genieße diesen Erwachsenen-Bereich. 

 

Paare auf den Bänken. Paare, die miteinander sprechen. Paare, die da sitzen und schweigen. Vielleicht, weil sie das schöne Wetter genießen. Vielleicht, weil sie sich nichts mehr zu sagen haben? Eine Familie mit einem Kind im Rollstuhl kommt des Weges. Mir wird wieder bewusst, wie anders als geplant, gehofft, gedacht ein Leben verlaufen kann. 

In der Ferne höre ich ein Kind, das immer wieder „Haaalloo“ ruft, „Haaalloo … Haaalloo … Haaalloo“. Ich frage mich, wer hört sie nicht? Wen will sie mit ihrem Rufen erreichen? Ihr Rufen klingt nicht verzweifelt oder hilflos. Will sie jemanden etwas zeigen? Vielleicht ein besonderes Kunststück auf der Tellerschaukel? Vielleicht sind die Erwachsenen mit sich selbst beschäftigt? 

Ich liege dort auf einem gebogenen Baum, der wie eine Hängematte in den See hinausgewachsen ist. Dort, wo die Kinder von einem Seil im Sommer mutig in den See springen. 

Ich blicke nach oben. Plötzlich frage ich mich: sind das Eschen rund um mich? Ohne Blätter, nur der Stamm, ich bin mir nicht sicher. Mir kommt das in den Sinn, was ich über das Eschensterben weiß. Was, wenn ich hier auf einer Esche liege, deren Wurzeln dem Eschensterben zum Opfer gefallen sind? Was, wenn ich im nächsten Moment nach unten ins Wasser falle? Ober mir knackst es. Nein, es war kein Knacksen, es war ein Specht. 

Die obere Hälfte des Baumherzes. Ich frage mich, was mag sich der Baumgeist dabei gedacht haben, nur die obere Hälfte des Herzens wachsen zu lassen. Damit die Menschen sich die untere Hälfte dazu denken? Oder war es dem Baum überhaupt nicht bewusst, in welch eine Form er seinen Ast hat wachsen lassen? 

Oft schon bin ich hier auf dieser Bank gesessen und doch hab ich sie noch nie gesehen, die zweite Hälfe vom Herz. Hier ist er ja, der untere Teil vom Herz, so meine Erkenntnis. 

Der Vater mit der fünf-, sechsjährigen Tochter. Sie kommen des Weges, während ich auf der Bank mit der eingeschnitzten Herzhälfte liege und mir die Sonne ins Gesicht scheinen lasse. Ich höre, wie die Kleine zu ihrem Vater sagt: „Schau, da liegt Eine auf der Bank!“ „Ja, die genießt die Sonne“, so der Vater dazu. Ich muss schmunzeln. Die Kinder sprechen noch aus, was sie sich denken. Wir Erwachsenen haben gelernt, vorher zu überlegen, lieber nichts zu sagen. Warum? 

Eine junge Frau auf der Plattform des Wasserrettungshäuschens sitzend. Sie hat den Kopf gebeugt, lässt sie ihn hängen, hat sie Liebeskummer, ist sie verzweifelt? Schaut sie ins Wasser, beobachtet das Spiel der Sonnenstrahlen auf der Wasseroberfläche? Oder liegt zwischen ihren Beinen ein Buch und sie lernt für ihr Studium? Neue Paare auf den Bänken am Wasser. Paare, die sich umarmen. Haben sie ihre Liebe über die Jahre erhalten können oder sind sie frisch verliebt?

Die beiden Fischerboote, die im Sonnenuntergang noch nicht zu sehen sind. Doch die Männer darin unterhalten sich lautstark von einem Boot zum anderen. Ich höre sie immer wieder von Metern sprechen. Sprechen sie über die Länge der Fische, die sie hier im Abtsdorfersee schon gefangen haben? Oder wie weit sie die Angel ausgeworfen haben? 

Sollte ich mich einsam und traurig fühlen, weil ich diesen schönen Sonntagnachmittag hier alleine verbringen? Sollte mir etwas, jemand fehlen? Woher kommt diese Stimme in mir, die versucht, mir das einzuflüstern? Mein Gefühl ist ein völlig anderes. Ich fühle mich dankbar. 

Dafür, immer wieder an diesen für mich einzigartigen Ort kommen zu können. Ich fühle mich glücklich. Darüber, diese besondere Schönheit, in der sich Frau See mir heute präsentieren wollte, erlebt zu haben. Ich fühle mich genährt von all den schönen, berührenden und einzigartigen Wahrnehmungen und Eindrücken und hoffe, dass sie auch auf den Fotos meines Handys so rüberkommen. 

 

Der Akku meines Handys ist fast leer. „Ladekabel anstecken“ erscheint auf dem Display, während ich mich über die Liegewiese auf den Weg zu meinem Auto mache. Während unten am Wasser die Sonne schon untergegangen war, scheint sie, wie im Sommer, noch auf ein paar Fleckerl am Waldrand. Ein letztes Foto will ich dem Akku noch abringen. Mit diesem letzten Foto will sich noch ein Sonnenstrahl von mir einfangen lassen, durch mich sichtbar werden. 

Ein Auto ist gerade am Wegfahren. Ein schickes Mercedes-Cabrio mit Münchner Autonummer. Im Auto zwei junge Männer und am Beifahrersitz eine ältere Frau. Diese Wahrnehmung sollte kurz vor meiner eigenen Heimfahrt noch eine Bestätigung erhalten.

Das Leben meint es gut mit mir…


 

Kommentare

  1. So wunderbar, der Grund warum ich am Bankerl so gern sitze, weil sich die Welt um mich dreht und ich nur lauschen brauche. :-)
    Wobei ich an anderen Tagen sehr gern allein am Bankerl bin.
    Danke

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