Das goldene Blatt


Plötzlich liegt es da auf meinem Tischerl am Balkon, dieses goldene Blatt. Zu den herbstlichen Schätzen, die ich aus dem Weinviertel mitgebracht habe, hat es sich gesellt. Wie lange es dort wohl schon liegt und wie lange es liegen bleiben wird, das frage ich mich. Wann wird es mit dem stürmischen Herbstwind, der seit heute Morgen über den Haunsberg braust, wieder weiterreisen? Wohin wird diese Reise in die Vergänglichkeit dieses Blatt noch führen? Wie weit wird dieser Weg noch sein? Dorthin, wo es, wenn es ihre herbstliche Reise vollendet hat, endgültig liegenbleiben wird, um sich zu neuem Humus zu verwandeln. Vielleicht werden dort ganz viele andere, goldene Blätter liegen, vielleicht aber auch nicht. 

So viele Blätter reisen bald wieder mit dem Herbstwind. Von Tag zu Tag werden es nun mehr und mehr. Sind es dieselben Blätter wie im letzten Jahr? Erinnern sie sich daran, auf ihre Weise, dass sie diese Reise jedes Jahr machen? Sind es dieselben Blätter, die sich Jahr für Jahr auf diese stürmische Reise machen oder doch andere? Trägt sie bei ihrem Flug durch die Lüfte die Gewissheit, dass sie im Frühling wiederkommen werden oder meinen sie, dass ihr Fallen von den Bäumen das Ende, ihr Ende sein könnte?



Vor einer Viertelstunde bin ich hinaus auf meinen Balkon gegangen, um die Blumen zu gießen. Schon von meinem Fenster aus hatte ich heute Morgen beobachtet, wie die dunklen Wolken vom mächtigen Wind über den Haunsberg getrieben werden. Nun wollte ich sie einatmen, diese stürmische Luft, in der Hoffnung, dass sie auch aus meinem Kopf die alte Müdigkeit raus fegt. Verband das Nötige mit dem bewussten Hineingehen in diesen neuen Tag. Spürte plötzlich, wie sich die Trennung zwischen Alltäglichem und Heiligem auflöst. Ineinanderfließt, was zusammengehört.

Ein großer Schritt auf unserem Lebensweg setzt sich aus vielen kleinen Schritten zusammen. Aus Schritten wie jenem, den ich vorhin hinaus auf meinen Balkon gemacht habe. Dankbarkeit erfasste mich, als ich hinunter in unseren Garten blickte, wo noch die Tische von unserem gestrigen Herbstfest stehen. Dafür, dass uns die Göttin gestern so einen lauen, luftig-leichten, sonnig-warmen Herbsttag geschenkt hatte für unseren Gang in die Anderswelt. 


Natürlich hätte dieser Gang durch die sieben Tore, wie ihn Inanna, die alte sumerische Göttin vor Jahrtausenden vorausgegangen ist, auch eine besondere Qualität gehabt, wenn es dabei so gestürmt hätte wie heute, wenn es dabei nass und nebelig gewesen wäre, wie es um diese Zeit hier bei uns am Haunsberg auch sein kann. Doch einfacher war dieser Weg, zumindest äußerlich betrachtet, sowohl für die elf Frauen, die sich gestern zum ersten Mal diesem Loslass- und Wandlungsprozess hingegeben haben als auch für mich, die ich das Herbst- und Todesfest zum ersten Mal im Rahmen meines Matriarchatslehrgangs hier mit den Frauen gefeiert habe, an diesem milden Herbstsonntag gewesen.

Nun, wo wir angekommen sind in der Anderswelt-Zeit, nun zeigt die Natur den Frauen gleich am nächsten Morgen die Essenz, die Botschaft des Herbstes, so meine Gedanken, als ich beim Gießen meiner Balkonblumen in den Himmel blicke, wo weiterhin dunkle und weiße Wolkengebilde dahinbrausen. Gestern hatte uns der Wald für unseren Gang in die Anderswelt wie eine liebevolle, sanfte Waldmutter empfangen und umfangen, heute wurde er vom stürmischen Wind kräftig durchgebeutelt. 


Wie groß der Plan unseres Lebens wirklich ist, das können wir nur erahnen. Jeder Abschnitt, den wir erkennen lernen, ist doch nur ein kleiner Puzzleteil des großen Ganzen, das wir „unser Leben“ nennen. Manchmal öffnen sich Tore und wir bekommen die Möglichkeit, auf das blicken zu dürfen, was wir schon zusammengesetzt haben. Vor zehn Jahren goss ich auch die Blumen auf meinem Balkon, auch damals fegten die Herbststürme die Blätter von den Bäumen. Ich schrieb an meiner HAGIA-Abschlussarbeit über die landschaftsmythologischen Spuren meiner Flachgauer Heimat, war voller Existenzängste, wie es nach meiner bevorstehenden Scheidung mit mir und meinen Kindern weitergehen würde und machte nach über 14 Jahren hauptamtlichem Mutterseins seit ein paar Monaten wieder Erfahrungen im außerhäuslichen Arbeitsleben.

Das goldene Blatt, es hatte nur eine kurze Zwischenstation auf meinem Balkon eingelegt. Noch während ich das, was ihr Erscheinen bei mir ausgelöst hat, hier am Schreiben war, ist es mit einer der stürmischen Böen wieder weitergereist. Es hat einen leeren Platz hinterlassen, den ich doch bis zu ihrem Erscheinen heute Morgen nicht als leer empfunden hatte. 

 
Ich frage mich, wie es wohl den Frauen gehen mag an diesem stürmischen Vormittag, die gestern zum ersten Mal bewusst eingetaucht sind in die Bilder der paradiesischen Anderswelt von Mutter Erde, die erstmalig von der Essenz gekostet haben, sich im Herbst zurückziehen zu dürfen, ausruhen zu dürfen, wie die Natur, wie Mutter Erde uns dies vorlebt, vorleben würde und die heute wieder an ihre Arbeitsstellen zurückkehren mussten. Wieder steigen Tränen der Dankbarkeit aus mir hoch. Dafür, dass es mich aus den patriarchalen Strukturen meines Lebens nicht nur in persönlicher, sondern vor allem auch in beruflicher Hinsicht hinausgeworfen hat.

Die Herbstgöttin braust gerade mit einer besonders stürmischen Böe über den Haunsberg. Der Dachstuhl über mir knackt, ein Reigen bunter Blätter tanzt vor meinem Fenster. Ich empfinde es als Luxus, diesen eindrücklichen, imposanten Einzug der stürmischen Herbstgöttin so hautnah miterleben zu können. Ich weiß, es ist nicht selbstverständlich in einer Welt, in der permanentes Wachstum und immerwährende Leistungsbereitschaft ganz oben stehen, dass ich vorhin genau in dem Moment raus auf meinen Balkon gehen konnte, um ein Foto der dahinbrausenden Wolken zu machen, als grade die Sonne über den Haunsberg kam und sie ihre ersten Strahlen an diesem letzten Septembertag hierher zu mir schickte. 


Ich frage mich, wie weit „mein“ goldenes Blatt inzwischen wohl schon gereist sein mag? Ob es auf dieser Reise auch anderen Frauen oder Männern auffallen wird oder ob es in der Masse der Blätter, die sich heute auf ihre Reise machen, nur mir auffallen wollte? Und ich muss schmunzeln bei der Frage, ob vielleicht auch andere Frauen beim Titel „Das goldene Blatt“ an jenes, auch ziemlich buntes, Klatschmagazin denken müssen, mit dem versucht wird, das Interesse von Frauen auf eine künstliche Scheinwelt aus Königshäusern und Promiwelten zu lenken. Doch nicht dort sind wirkliche Schönheit und wahrer Reichtum zu finden, sondern da, wo uns beim Blumengießen plötzlich ein goldenes Blatt auffällt … 


Auch im nächsten Jahr biete ich für interessierte Frauen wieder die Möglichkeit an, im Rahmen meines 4teiligen Basis-Matrirachatslehrgangs solche Erfahrungen machen zu können. Gemeinsam im Frauenkreis einzutauchen in den matriarchalen Jahreskreis und mehr zu erfahren über die Bedeutsamkeit und Wichtigkeit matriarchaler Gesellschaftsstrukturen für unsere heutige Zeit. 

Nähere Informationen zum Lehrgang findet Ihr auf meiner Homepage: www.wildmohnfrau.at



Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Oliver - mein Heros und der richtige Mann für mich

Urmutter Anna und das Wissen der Frauen - Die Ursprünge ihrer weitverbreiteten Verehrung und die Verbindung der Heiligen mit alten Frauenkultorten.

Brigid, Göttin des Lichts und des Neuanfangs