Grosse Ahnfrauen - Die jungsteinzeitlichen Wandmalereien vom Bodensee
Den 26. Mai verbinde ich, seit ich
für dieses Leben hier auf der Erde angekommen bin, mit dem Geburtstag meiner
Oma. Vor einem guten Jahr ist sie zu unseren Ahninnen und Ahnen gegangen. Dass
der Thementag „Grosse Ahnfrauen“, organisiert von Christina Schlatter vom
MatriArchiv in St. Gallen, genau am 91. Geburtstag meiner Oma auf dem Programm
stand, war für mich ein Zeichen, dass ich mich an diesem Tag auf die Reise nach
Zürich machen soll.
Die jungsteinzeitlichen Wandmalereien
vom Bodensee, auch als sogenannte „Mütterwand“ bekannt geworden, waren Anfang
der 1990iger Jahre in einer Pfahlbausiedlung bei Bodman-Ludwigshafen zum
Vorschein gekommen. „Bis wir sagen konnten, wir hätten etwas begriffen, das hat
gedauert“, so Helmut Schlichtherle, leitender Archäologe der Ausgrabungen am
Bodenseeufer und erster Referent des Thementages rund um die großen Ahnfrauen.
2016 wurde die „Mütterwand“ in Zuge
der Baden-Württembergischen Landesausstellung „4.000 Jahre Pfahlbauten“
erstmals der Öffentlichkeit gezeigt. Ich erinnere mich noch genau an den
Moment, als ich das erste Bild davon im Internet gesehen habe. Wie fasziniert
ich war, so ein eindrückliches Bild von gelebter, matriarchaler Kultur und Spiritualität
zu sehen. Leider sollte es nicht sein, dass ich zu dieser Ausstellung fahre.
Umso dankbarer bin ich, von ihrer Besonderheit und Bedeutung anlässlich des Thementages
berichten zu können, welcher in einem interdisziplinären Ansatz die
archäologische, gesellschaftliche und landschaftsmythologische
Betrachtungsweise dieses einzigartigen und für das 4. Jahrtausend v.u.Z. sehr
überraschenden Fundes zum Inhalt hatte.
Rund 2000 Fragmente sind zutage
gekommen, so Helmut Schlichtherle in seinem Vortrag unter dem Titel „Ein Fries grosser Frauen – monumentale Wandmalereien
aus der Pfahlbausiedlung Bodman-Ludwigshafen, um 3860 v.Chr.“ Davon zwei
Brustfunde, „fast lebensgroß“, welche vollständig erhalten waren. Auf diese
Funde hat die Presse weltweit reagiert, teils mit sexistischen Inhalten. Immer
wieder zeigt sich in dieser Art von Berichterstattung, wie stark einige
Jahrtausende Patriarchat unser Sehen und Denken verformt haben. Die
weibliche Brust als das Symbol des weiblich-mütterlich Nährenden, kann
heutzutage fast nur noch als „Sexsymbol“ für die männliche Lustbefriedigung
gesehen werden.
Ein Brand hat die Wand des Kulthauses
dieser Siedlung am Bodensee, auf der sich innen diese Wandmalereien befunden
haben, nach unten fallen lassen. Die Teile waren unregelmäßig ineinander
verstürzt. In mehreren Anläufen wurde versucht, das Puzzle all der gefundenen Teile
zu rekonstruieren. Frustrierende Jahre mit erfolglosen Versuchen des Zusammensetzens
folgten. Die Teile waren bröselig und keine klaren Kanten waren vorhanden.
Die Holzstruktur der Wand, auf welche
die Bilder mit Lehm und Kalk gemalt worden waren, war letztendlich der Schlüssel
zur Lösung. Mindestens sieben Gestalten waren an der Wand abgebildet, es werden
acht bis neun Frauendarstellungen vermutet. Verschiedene Handschriften sind in
den Malereien zu erkennen, es haben also mehrere Personen an den Figuren
gemalt, welche nahezu lebensgroß sind und weibliche Proportionen in abstrakter
Weise auf dieser Wand abgebildet haben.
Die Brüste sind plastisch
dargestellt. Sie traten den Menschen somit entgegen. Überzogen sind die
Darstellungen mit weißen Punkten. Kalk ist stark lichtreflektierend. Welch eine
magische Erscheinung mögen diese Ahnfrauen gewesen sein in diesem dunklen
Kulthaus, wenn das Feuer darin angezündet wurde.
Nachdem Helmut Schlichtherle und sein
Team das Puzzle soweit zusammengesetzt hatten, dass die Abbildungen erkenntlich
wurden, stellte sich die Frage: „Was haben wir da gefunden?“ Verstorbene,
Geistwesen, Göttinnen…?
Auf einem großen Stück der
Zwischenmotive waren bäumchenartige Gestalten zu sehen. Diese haben dabei
geholfen, das Wandbild rekonstruieren und auf der symbolischen Ebene deuten zu
können. Diese „Bäumchen“ sind aus anthropomorphen Gestalten zusammengesetzt, wie
sie sich seit der Jungsteinzeit auf der Keramik Süddeutschlands finden. Hinter
diesen „Bäumchen“ verbergen sind Frauen in Gebärhaltung, wie uns Helmut
Schlichtherle erläuterte. Diese Art der Darstellung ist zu lesen als „geboren
aus…geboren aus…geboren aus…“.
Anhand weiterer Abbildungen auf
jungsteinzeitlicher Keramik erklärte er uns im Anschluss die Bedeutung der
sonnenförmigen Köpfe und des Kreuzbandes als ein Signe von Frauen. Er wies auf
die Parallele zwischen den jungsteinzeitlichen Keramikgefäßen mit Brüsten als
ein Abbild des schwangeren Leibes der Frauen hin, in dem ein
Transformationsprozess stattfindet. Betonte, dass das, was da am Bodensee
gefunden worden war, keine lokale Geschichte der Bodensee-Region war, sondern
in großen, geografischen Räumen in Europa eine Rolle spielte und lange Zeit
gültig war.
Helmut Schlichtherle zieht als
Resümee aus diesen Entdeckungen und seinen Forschungen: die Ahninnenwand ist ein sozio-religiöses
Manifest - die großen Ahnfrauen und ihre Familienlinien in matrilinearer
Lebensweise.
Heide Göttner-Abendroth, Begründerin
der Modernen Matriarchtsforschung, erläuterte als nächste Referentin am Beginn
ihres Vortrags „Moderne
Matriarchatsforschung heute – ihre Grundlagen und ihre Bedeutung für die Kulturgeschichte“
die Definition matriarchaler Gesellschaften, wie sie in ihrem Buch „Am Anfang
die Mütter“ nachzulesen ist.
Dass die Darstellungen der Ahnfrauen
und die Mutterlinie-Verehrung am Bodensee kein Einzelfall sind, sondern ein
uraltes, weit verbreitetes, gesellschaftliches Muster darstellen, betonte Heide
am Beginn des zweiten Teils ihres Vortrags. „Überall, wo es noch matriarchale
Menschen gibt, sagen sie, dass sie das älteste Volk sind und dass sie früher
viel weiter verbreitet waren.“
Weltweit finden sich Abbildungen von
Doppelfiguren, welche „Mutter und Tochter“ abbilden. Mutter und Tochter
gebärend, in einer Linie übereinander: das ist die Mutterlinie! Beim Sesshaftwerden
in der Jungsteinzeit wurde die Mutterlinie entscheidend und diese haben die
Menschen in diesen Figuren immer wieder abgebildet.
Von den Augenidolen aus Tell Brak im
heutigen Syrien bis zu den Kykladen-Figuren, bei denen die Tochter „auf dem
Kopf der Mutter steht“, bilden all diese Darstellungen die Mutterlinie ab. Das
weibliche Prinzip, welches so wie in den Darstellungen von Chatal Höyük in der
Türkei, auch das Männliche und die Tiere hervorbringt.
Die in der Literatur als „Wachstumslinien“
interpretierten Bögen aus dem Megalithgrab von Gavrinis in der Bretagne deutet
Heide ebenfalls als Vulven. Diese gehen in einer Linie nach oben, das ist
wiederum die Mutterlinie. Die seitlichen Vulva-Bögen bilden die „Töchterlinien“
ab. Auch im jungsteinzeitlichen Hügelgrab von Newgrange in Irland zeigt sich
diese weibliche Genealogie in abstrakter Formgebung.
Ebenso bilder der „Mutter-Tochter-Doppeltempel“
von Gozo (Malta) die weiblich-mütterliche Genealogie ab, welche für die
matriarchale Gesellschaft so zentral wichtig ist, um ihre Gesellschaft zu strukturieren.
Somit ist auch die „Mütterwand vom
Bodensee“ eine weitere Ausdrucksform des matriarchalen Grundprinzips, dass das „mütterliche
Prinzip“ die ganze Gesellschaft strukturiert, so Heide Göttner-Abendroth in
ihrem Resümee.
Im dritten Teil nahm uns Kurt
Derungs, Leiter der Akademie der Landschaft und Begründer der
Landschaftsmythologie, in seinem Vortrag „Die
Ahnfrau als Bergmutter“ mit auf eine Reise in die Landschaft rund um den
Bodensee. Die Bildwand hatte ihn angespornt, er stellte sich die Frage: „Was
gibt es dazu aus der Landschaft zu entdecken?“
Die „Mütterwand“ bezeichnet Kurt
Derungs als eine „Sicht-Wende“ in der Archäologie, in der sonst nur Waffen und
eingeschlagene Schädel im Vordergrund stehen. Hier ist nun ein Blick in eine
Mythologie möglich, die auch nachvollzogen werden kann. Dieses Beispiel vom
Bodensee erlaubt uns einen Blick in die jungsteinzeitliche Mythologie und wir
begegnen durch diese Kultwand der Urmutter, den Ahnfrauen.
Durch die „Mütterwand“ werden
jungsteinzeitliche Gefäße mit Brüsten in ein neues Licht gesetzt. Der Aspekt
des Nährenden, der Erhaltenden, das Prinzip des Leben Gebenden und Erhaltenden wird
damit sehr deutlich dargestellt. „Viele Brüste“ sind es, welche uns ernähren. In
zum Teil „humoristischen“ Texten werden diese Brust-Darstellungen von den
Museen in den beschreibenden Texten als „Henkel“ betitelt.
Die Genealogie der „Lebensbäumchen“,
die auch als Felszeichnungen zu finden sind, beschreibt Kurt Derungs als „geboren
von, geboren von, geboren von…“. Die älteste, ihm bekannte Darstellung von „gespreizten
Beinen in Gebärhaltung“ findet sich auf einem Elchgeweih aus Polen, datiert auf
9000 v.u.Z.
Die Ahnfrauen sind nicht nur die
Hervorbringenden und die Nährenden. Sondern auch die Clans, die sich von ihnen
ableiten. Sie bringen auch die Tiere, die Natur und die Landschaft hervor. Die
Ahnfrau hat auch den Berg, die Flüsse hervorgebracht. In der
christlich-religiösen Subkultur lebt diese Symbolik in Gestalt der Weihegaben
weiter, wie die sogenannten „Gebärmutterkröten“ als Abbilder der Gebärmutter zeigen,
welche die Frauen weihen haben lassen, wenn sie nicht schwanger wurden.
Den Bogen von der Kultwand zur
Kultlandschaft spannt Kurt Derungs anhand einiger anschaulicher Beispiele aus
Europa, denn es gibt keinen größeren Kultort, der nicht auch mit der Landschaft
vernetzt wäre. Mythologie wurde nicht nur in den Kulträumen gelebt, sondern
Draußen, in einem räumlichen Kontext. Wo also ist die Erweiterung der Kultwand
vom Bodensee zu finden?
In den „Paps of Anu“, den „Busenbergen“
von Mutter Erde in Irland, zeigt sie sich uns als „die Erhaltende“, ebenso in den
„Paps of Jura“ in Schottland. Diese „Inselbrüste“ gehören Cailleach. Auch die „schlafende
Hexe“ hier in meiner Salzburger Heimat ist eine liegende Ahnfrau. Die Percht,
die als „Mittwinterfrau“ aus ihrem Schoß das Licht hervorbringt.
Im Bodensee-Raum ist es der Alpstein,
eine Untergruppe der Appenzeller Alpen. Der Alpstein ist der heilige Berg der
ganzen Bodensee-Region. Im Winter ist er weiß, im Sonnenuntergang leuchtet er
rot. Als Kalkberg ist seine Grundfarbe weiß, in der Dämmerung erscheint er
schwarz.
Das Bild, welches der Alpstein in der Natur abgibt, steht in der
Wechselbeziehung zur Kultwand. Säntis, der höchste Gipfels des Alpsteins und der
Altmann-Gipfel sehen von der Nord-Region um Überlingen aus betrachtet wie zwei
Busen aus. Aus der Region um Frauenfeld und Schaffhausen betrachtet ist eine
einzelne Felsbrust mit Nase zu sehen. Die weißen Punkte auf der Kultwand sind
der Schnee des Alpsteins. Jener Schnee, der die Milch, die Muttermilch der
Ahnfrau symbolisiert.
Der Alpstein ist die Urmutter der
Bodenseeregion, so Kurt Derungs in seinem Resümee. Er ist auch eine „Mondmutter“,
denn alle 18,6 Jahre geht über seiner Felsbrust der Vollmond auf. Aus ihrer
Brust kommt die „Mondmilch“, das „weiß Gepunktete“ auf den Brüsten der Kultwand.
Die Signatur aus der Landschaft wurde
für die Kultwand übernommen. Sie zeigt die eine Ahnfrau, den Alpstein, die sich
unterschiedlich manifestiert. So kann die Anthropologie – die Wissenschaft vom
Menschen und seiner Entwicklung – die Archäologie erweitern.
Wir Menschen der heutigen Zeit können
durch all das die Landschaft anders sehen lernen. Und auch unser Blick auf die
Vergangenheit, auf unsere Geschichte weitet sich, vor allem aber jener auf unsere
Kultur und Spiritualität. Sie zeigt sich uns durch all das in ihrer
ursprünglichen, natürlichen Einbettung in den Schoß unserer Urmütter, die
weltweit bis heute das Leben schenken, erhalten, verwandeln, wieder zu sich
nehmen, um es von Neuem zu schenken.
„Geboren aus…geboren aus…geboren aus…“
Kurt Derungs, Helmut Schlichtherle und Heide Göttner-Abendroth bei der anschließenden Podiumsdiskussion |
Liebe Renate, danke für die inspirierende und ansprechende Darstellung dieser Form der Genialogie - Mutterlinien - die Landschaft mit einbezogen - bereichernd!
AntwortenLöschenAls Malerin betrachte ich Landschaften immer wieder als körperhaft und lebendig - unser Körper ist für mich wiederum Spiegel der Landschaft - ein Wechselspiel.
AntwortenLöschenLiebe Renate, vielen Dank für die schöne Zusammenfassung. Das Thema "Mütterwand" beschäftigt mich auch sehr.
AntwortenLöschenHerzliche Grüße,
deine Elisabeth